Hermine Nierlich-Jursa
Ratuj mnie, reši me! (Rette mich)
"Wie hätte eine Einzelne die alle retten können? Das hat gut organisiert werden müssen. Das hat nur eine Organisation machen können.”

Gott sei Dank hat die Rosa Jochmann, die Blockälteste im alten Lager war, erfahren, dass zwei Wienerinnen gekommen sind und hat uns geholt auf ihren politischen Block und uns gleich eine Arbeit verschafft, in der Effektenkammer. Das war natürlich sehr wichtig, dass man irgendwo in einem Betrieb war und nicht auf Außenarbeit gekommen ist.

Später, [als Handwerkerinnen im Industriehof] haben wir dann Verdunkelungen machen müssen. Wir haben Zutritt gehabt zu allen Betrieben, in die Weberei, in die Schneiderei, in die Korbflechterei, in die Pelzschneiderei. Der Industriehof wurde dann ausgebaut mit vielen Betrieben. Da hat man die Menschen arbeiten lassen, da ist die Losung gewesen: "Vernichtung durch Arbeit." Man hat den Menschen immer weniger, immer schlechteres Essen gegeben und man hat das Pensum immer weiter hinaufgedrückt, dass die Lebenszeit immer kürzer geworden ist. Länger als sechs Monate hat das eine Arbeiterin nicht mehr aushalten können. Da sind sehr viele Menschen durch Arbeit zugrunde gegangen.

Als die Transporte von Auschwitz gekommen sind, da waren die Politischen darunter, meistens zum Tode Verurteilte. Da waren zum Beispiel drei Wienerinnen, die eine ist bei Siemens untergebracht worden, das lag außerhalb vom Lager. Die zweite haben sie untergebracht in meiner großen Werkstatt, und die dritte, die Lehr Toni, die hat Typhus gehabt, die hat hohes Fieber gehabt, die haben wir nirgends hinbringen können. Aber die SS hat die drei gesucht, um sie zu erschießen. Die Lehr Toni ist dagelegen und hat hohes Fieber gehabt. Die Berner Mizzi ist hingegangen und hat gesagt: "Du kannst da nicht liegen bleiben, komm!” Da sagt die Toni: "Mizzi, geh´ weg, dass du nicht gefährdet wirst, ich gebe mich auf, ich kann nicht mehr weiter.” Dann ist die Bruha Toni dazugekommen. Die zwei haben die Toni Lehr genommen und auf den Block getragen, wo die Frauen mit den ansteckenden Krankheiten waren, Typhus, Scharlach etc. Und tatsächlich hat die SS dort nachgesucht. Da hat die Blockälteste gesagt: "Ja bitte kommen Sie, aber ich sage Ihnen gleich, das sind alles ansteckende Krankheiten, was die da haben.” Darauf ist die SS nicht hineingegangen. Also haben wir auf diese Art und Weise die Toni Lehr gerettet.
Dann wurde die Gerti Schindel gesucht. Die Gerti ist von Siemens her ins Lager geholt worden, zur Erschießung. Ich habe davon nichts gewusst, aber die Berner Mizzi, mit der ich ständig in Verbindung war, wusste es. Die Berner hat auch eine Armbinde gehabt, [dass sie frei im Lager umhergehen darf, wie wir alle], sonst hätten wir ja das alles nicht machen können. Sie hat die Lagerpolizistin Mizzi Grassinger informiert: "Wenn die Gerti dort steht und die Aufseherin geht hinein und meldet sie, dann rufst du ihr zu, sie soll laufen.” Tatsächlich, die Aufseherin bringt die Gerti und geht hinein und meldet: "Häftling sowieso ist da!” Und die haben sie in den Akten gesucht. Währenddessen ruft die Polizistin: "Gerti renn!” Die Gerti rennt und die Berner Mizzi hat sie sofort in Empfang genommen. Ich komme zufällig von einer Tour Krankenbesuche mit meinem Werkzeugkistl, da sagt die Berner Mizzi: "Du, Hermi, nimm sie mit hinunter in den Industriehof.” Ich habe sie mitgenommen in den Industriehof in meine kleine Werkstatt rückwärts und habe ihr gesagt: "Gerti, da steht eine große Kiste, da gehst du dann abends hinein und wenn du hörst, dass niemand mehr im Lager ist - dass die Arbeiterinnen, die bei den Pelzen gearbeitet haben, schon weg sind -, dann gehst du auf die Pelze hinauf und legst dich schlafen, und um sieben Uhr in der Früh hole ich dich.” Ich bin um sieben Uhr gekommen, hab sie aus der Kiste herausgeholt, bin mit ihr übers Lager gegangen, habe meinen Schmäh rennen lassen, beim Tor, dass ich durchkomme mit ihr und habe sie dann der Berner Mizzi übergeben.
Dann haben sie noch die Edith [Rosenzweig-Wexberg] gesucht. Die haben sie nicht gleich gefunden. Wir haben ja gewusst, dass sie gesucht wird und haben ihr Innendienst gegeben, weil von der Maschine weg hätte sie nicht flüchten können. Also war sie am Block. Einige Tage später treffe ich die Freiberger Mimi am Lagerplatz, sagt sie: "Du Hermi, die Edith haben sie schon gefunden, die wird geholt." Ich hab mich umgedreht, bin auf den Block und sage zur Cilli: "Wo ist die Edith?” Sagt sie: "Die geht mit den Nachtschichtlern draußen spazieren.” Am elektrischen Draht sind die Nachtschichtler immer spazieren gegangen vor der Arbeit. Unter die hat sie sich gemischt. Ich gehe hin zu ihr und sage: "Edith, komm!” Sie hat schon gewusst, was los ist. Ich gehe mit ihr, kommt die Bruha Toni vorbei, die wollte gerade zur Rosl Jochmann gehen. Sag ich: "Du Toni, komm her, die Edith müssen wir jetzt über den Posten bringen." Alle zwei hatten wir Armbinden und haben heftig auf die Edith eingeredet, sie geschimpft, was sie schon wieder angestellt hat, und so haben wir sie über den Posten gebracht. Die Toni hat sie dann wieder der Berner Mizzi übergeben. Das war unser Hauptstützpunkt. Die hat alles gemanagt vom Arbeitseinsatz aus. Die Berner Mizzi hat sehr viel geleistet und die Bruha Toni auch. [Gerti Schindel, Toni Lehr und Edith Wexberg waren im französischen Widerstand innerhalb der "travail anti-allemand" aktiv. In Ravensbrück wurden sie so lange vor der SS versteckt, bis sie mit einem Transport des Roten Kreuzes kurz vor Kriegsende mit falschen Namen das Lager verlassen konnten.]

Wir haben fünfhundert Kinder im Lager gehabt, und die Lagergemeinschaft hat sich darüber abgesprochen, dass wir den Kindern Weihnachten machen. Aber wie? Was? Eine rege Tätigkeit hat im ganzen Lager begonnen. Von den Betrieben wurden Abfälle genommen, Pupperl und alles mögliche hergestellt. Die Strickerinnen haben Fäustlinge und Handschuhe gemacht für die Kinder. Das Lager hat aufgelebt. Die Menschen, besonders die alten Menschen, die jede Hoffnung aufgegeben hatten, die haben gesagt: ”Da ist eine Kraft im Lager vorhanden, das ist ja unglaublich. Da haben wir noch Hoffnung, dass wir doch noch hinauskommen.” Die ganze Internationale hat zusammengeholfen. Wir haben beschlossen, dass wir ein Kasperltheater machen, das haben die Hella und ich gemacht. Wir haben der Aufseherin gesagt: ”Bitte wir brauchen einen Verdunkelungsrahmen!” Sie ist mit uns hinausgegangen in die Tischlerei. Den Männern haben wir gesagt: "Macht einen Rahmen, das wird ein Kasperltheater, macht ihn dementsprechend!” Die haben ihn gemacht, und wir haben ihn ganz offiziell hineingetragen. Wir haben ihn dann gestrichen und bemalt. Die Frauen haben intensiv gearbeitet. Die Polinnen haben Köpfe gemacht, die Tschechinnen haben Kleider gemacht, ein jeder hat irgendetwas gemacht. Der SS ist durch die Spitzel zu Ohren gekommen, dass da irgendetwas im Gang ist, und dann sind sie auf die Suche gegangen und haben natürlich nichts gefunden, weil wir ja das alles versteckt haben. Wie sie gesehen haben, dass das so eine Breite annimmt im ganzen Lager, haben sie sich selbst an die Spitze gestellt und haben gesagt: ”Wir erlauben es.” Da ist eine Baracke freigemacht worden. Wir haben ihnen natürlich die Sachen nicht alle gleich gegeben, weil die SS hätte dann nachgeforscht, wieso wir das haben. Geschenke haben wir hergegeben und Essen haben wir gesammelt. Dann kommt der Kommandant und hält eine Ansprache vor den Kindern: ”Kinder, wir haben jetzt den Krieg, es geht euch nicht gut, uns geht es auch nicht gut. Aber wenn wir den Krieg gewonnen haben, dann werdet ihr eine schöne Zukunft haben.” Was war dann die Folge? Die Kinder sind dann im Jänner auf Transport gegangen, nach Bergen-Belsen zur Vernichtung.

Aus: Ratuj mnie, reši me! (Rette mich), Österreichische Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, 65 min. Weitere Informationen zum Film finden Sie hier.